
Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal umfasst 7 000 ha und liegt je zur Hälfte in den Bundesländern Niederösterreich und Steiermark und ist ein strenges Schutzgebiet, ein Wissenschaftsreservat. Darin findet sich mit 400 ha der grösste zusammenhängende Fichten-Tannen-Buchen-Urwald des Alpenbogens. Der Urwald darf von Betriebsfremden nicht frei betreten werden. Ich wollte ihn anfangs der 1980er Jahre mit dem beauftragten Pilzkundler Dr. Stefan Plank (1949-1982) aus Graz besuchen, was durch seinen frühen Tod verhindert wurde. Nun erreichte mich die Einladung des WWF-Österreich, den Urwald am 18. Juli 2025 mit einer Sondergenehmigung zu besuchen. Jährlich werden 25 geführte und reglementierte Eintritte erlaubt, allerdings nur in die Peripherie des Urwaldes. Das reicht aber vollkommen aus, um einen Eindruck zu erhalten.
Was ist ein Urwald?
Zuerst zur Definition: ein Urwald ist ein unberührtes Waldgebiet, wie es die Natur erschaffen hat und ohne den Einfluss des Menschen gewachsen ist. Solche gibt es in den Alpenländern nicht mehr grossflächig. So sind beispielsweise die in der Schweiz noch vorhandenen Gebirgsurwälder kleinstflächig und meist sollte man eher von NatUrwäldern sprechen. Dies darum, weil frühere menschliche Nutzungen wie etwa Waldweide, Köhlerei und Brennholzgewinnung selten auszuschliessen sind. Und das Wichtigste, es fehlt meist an sehr alten Bäumen.
Grössere Urwälder finden sich erst wieder im Osten Europas und auf dem Balkan, so in der Slowakei, Polen, Ukraine, Bosnien und Rumänien. Im Rothwald dürfte seit rund 12 000 Jahren nie eine Axt eingesetzt worden sein. Aber selbst der Rothwald dürfte über die letzten Jahrhunderte nicht ganz unberührt worden sein. Eine Waldweide durch Nutzvieh ist wahrscheinlich, weil der Talgrund teils noch offenes Grünland besitzt. Auch eine Brennholzgewinnung ist möglich und dieser Wald wurde vor allem für jagdliche Zwecke genutzt, was sich wohl auf das Vorkommen der Weisstanne für einige Zeit durch Wildverbiss negativ ausgewirkt haben dürfte. Was ihn auszeichnet ist, dass es alte Bäume gibt.

Warum überlebte der Rothwald-Urwald?
Dafür gibt es mehrere Gründe: er konnte aufgrund seiner Abgelegenheit, dem wechselnden Besitz mit einem historischen Streit über Grenzverläufe, zu geringen Wassermengen in den Bächen für Holztransporte sowie langen Wintern mit extremen Schneemengen bis heute überleben. Das Gebiet war 300 Jahre ein Zankapfel zwischen den Zisterziensermönchen von Gaming und den Benediktinern von Admont. Das Holz hätte hier über „feindliches“ Land abgeführt werden müssen. Mit dem Kauf des Rothwaldes und seiner Umgebung durch Albert Rothschild im Jahre 1875 wurde der Urwald zum Naturschutzgebiet, er diente ihm auch als Jagdrevier.
Die Zufahrt vom niederösterreichischen Lunz am See in den Kalkalpen mit dem „Haus der Wildnis“ entlang der Salza und später dem Lassingbach in der Steiermark ist ausgesprochen lange. Ab der letzten Siedlung von Wildalpen dauerte es nochmals rund 25 Kilometer um ins Wildnisgebiet bei Dürrenstein zu gelangen. Im Lassingtal gibt es entlang des Baches noch einige waldfreie Weiden mit wenigen Gebäuden als letzte Reste der Zivilisation. Eine solche Peripherie ist auch im Alpenbogen eine Rarität. Mit 2 Einwohnern pro km2 handelt es sich hier um eine der niedrigsten Einwohnerzahlen Österreichs, wobei die Gemeinde Wildalpen mit mehr als 200 km2 Fläche grösser als Liechtenstein ist.
Das Haus der Wildnis

Mit dem im Jahre 2021 eröffneten Haus der Wildnis (www.haus-der-wildnis.at) soll man dem Urwald ganz nahe kommen. Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal und sein Urwald schlägt die Themenbrücke zwischen Schutzgebiet und Besucher. Mit interaktiver Technik wie Augmented Reality, VR-Brillen und 180 Grad-Kino taucht man auf über 700 m2 Ausstellungsfläche barrierefrei tief in den Urwald ein. Mit kostenlosem App werden 16 Stationen in Text und Bild erklärt und damit kann man auch zu Hause den Besuch wiederholen oder dies dient als Vorbereitung des Besuches. Auf den Bildungs- und Erkenntniswert für Kinder und Schüler wird wert gelegt und entsprechende Workshops angeboten. Im Haus finden Veranstaltungen statt und es werden auch Exkursionen ins Wildnisgebiet angeboten. Das Haus besitzt seinen Empfang mit Wildnis-Shop wie auch ein Café-Restaurant.





Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingstal

In den Jahren 1997-2001 wurde das Wildnisgebiet Dürrrenstein nach den Kriterien der IUCN als Wildnisgebiet eingerichtet. Eine IUCN-Anerkennung erfolgte hier 2003 im Ausmass von 2 370 ha, trotz der sonst erforderlichen 10 000 ha Mindestgrösse. 2017 wurde das damals einzige Wildnisgebiet Österreichs, das Wildnisgebiet Dürrenstein, von der UNESCO zum ersten Weltnaturerbe Österreichs erklärt. Dies geschah im Zuge der Ernennung zum Naturwelterbe „Europäischer Buchenwälder“. Der steirische Teil wurde im Jahre 2023 ergänzt. Eine nochmalige Erweiterung im steirischen Teil, um die 10 000 ha zu überschreiten, scheiterte in Verhandlungen für nötige Ablösungen.
Was bleibt mir vom Wildnisgebiet als Erinnerung? Es dürfte sich um die erste genutzte forstliche Generation nach der Urwaldphase handeln. Die Bäume sind mittelalt, die älteren 100-200 Jahre. Der Totholzanteil ist ausgeprägt. Man kann von einem Naturwald sprechen. Der Wald ist strukturiert, besitzt Blössen, die vom Windwurf stammen und die sich wieder pionierartig bestockten. Es sind dies seltene Waldbilder heutzutage. Es gibt für den Besuch einige markierte Wanderwege, die nicht verlassen werden sollen. Der Verbiss durch Schalenwild ist nicht ausgeprägt und wird gemäss einer durchgeführten Masterarbeit an der Universität für Bodenkultur in Wien als gering eingeschätzt. Es leben 4 Hirsche und 5 Gemsen auf einem km2. Rehwild kommt nur sporadisch vor. 75 % des Wildnisgebietes sind Wildruhezone, in 25% kann selektiv eingegriffen werden.



Und noch ein Gedanke zum Wild. Die Fahrt ins Gebiet erinnerte mich an das rumänische Transsilvanien, wo nach Auswilderung derzeit wieder rund 170 Wisente leben. Ähnlich wie hier war der Talgrund teils offenes Grünland und die Hänge weitgehend mit Wald bestockt. In der Ausstellung im Haus der Wildnis wird erwähnt, dass hier der Wisent bis zum 10. Jahrhundert gelebt habe und dann vom Menschen ausgerottet wurde. Seine Wiedereinbürgerung findet nun verschiedenenorts in Europa statt. So gibt es im Schweizer Jura in einem Naturpark bei Thal (Solothurn) ein Gehege mit Abklärungen der Wiedereinbürgerung. Wäre solches auch in Dürrenstein-Lassingtal möglich und sinnvoll? Es sollte dabei weniger die Wiedereinbürgerung des Wisentes im Vordergrund stehen als die Wiederherstellung des Ökosystems mit einem grossen Grasfresser, um die Urwaldbedingungen wieder einzuführen. Mit dem Einwandern der Gross-Regulatoren Wolf, Bär und Luchs komplettiert sich das einstige Ökosystem. Im Wildnisgebiet wird derzeit der Habichtskauz in einem mehrjährigen Projekt für Österreich wieder angesiedelt.
Der Urwald Rothwald

Der 400 ha grosse Urwaldrest, es gibt hierzu auch andere Zahlenwerte, ist pflanzensoziologisch dem Buchen-Tanne-Fichtenwald zuzuordnen, wobei die Buche mit dem Waldmeister-Buchenwald dominiert. Er stockt auf Hauptdolomit, die höheren Lagen bilden Dachsteinkalke. Es ist von einem grossen (2.4 km2) und kleinen Urwald (0.5 km2) in einer wissenschaftlichen Arbeit die Rede, deren Auftrennung auf einer Holzentnahme nach Windwurf im Jahre 1966 beruht. Der Urwald stockt auf 940-1500 müM. Der Niederschlag im Gebiet beträgt ca. 2 300 Millimeter jährlich, das Jahresmittel beträgt 3.7° Celsius. Wegen der Nässe lassen sich Stücke des Totholzes wie Schwämme ausdrücken.
Seine periphere Lage schützte wie erwähnt den Urwald. Ab Mitte des 18.Jahrhunderts fielen allerdings rund 1 500 ha Urwald der forstlichen Nutzung zum Opfer. Der Urwald findet sich teils in einer fruchtbaren Kessellage südöstlich des Dürrenstein. Darum gibt es hier kleinflächig Holzvolumen bis 1 577 m3 pro Hektar. Die ältesten beprobten Weisstannen und Eiben sollen rund 1 000 Jahre alt sein, die ältesten Buchen über 450 Jahre. Die höchste Fichte ist 62.5 Meter hoch. Eine besuchte Weisstanne konnte knapp von vier Leuten umarmt werden, was einem Umfang von über 4.5 Meter entspricht. Typisch ist die sogenannte Totholz- oder „Kadaververjüngung“. Das bezeichnet in der Forstwirtschaft eine Form der Naturverjüngung, bei der die Saat von Waldbäumen auf verrottendem Holz abgestorbener Stämme keimt und wächst. Die Wurzeln nutzen das vermodernde Holz als Nährbett und erreichen seitlich irgendwann den Mineralboden. Nachdem der alte Stamm nach vielen Jahrzehnten zerfallen ist, zeigen die Stelzenwurzeln ähnlich einem Mangrovenwald das unübliche Aufkommen an.



Anlässlich eines Life-Projektes wurde der Eingang zum Urwald mit Holzplanken abgedeckt, um den Waldboden zu schonen. Die ersten 200 Meter zeigen bereits alle möglichen Urwaldbilder an, sodass ein weiteres Vordringen gar nicht nötig ist, um den Urwaldaspekt zu erleben. Und was mir noch aufgefallen ist, ist eine Art Symbiose von Buche mit dem Nadelholz. Beide stehen im Gebiet eng, fast umschlungen beieinander und dies auch mit älteren Stämmen.


Wer sich mit dem Thema Wildnis oder Rewilding auseinandersetzen will, dem ist der Besuch dieser Gegend zu empfehlen. Die Themen Naturschutz, Bildung und Wissenschaft sind zentrale behandelte Gegenstände. Es sollen 18 Personen für das Wildnisgebiet tätig sein. Die gebotene Kommunikation im Haus der Wildnis wie auch draussen im Wildnisgebiet ist professionell und wurde von Nina Schönemann und Marion Schwinbacher sehr gut präsentiert. Der WWF-Österreich mit der Geschäftsführerin Andrea Johanides hatte neben ihre Mitarbeitenden Karin Enzenhofer und Georg Frank weitere Personen aus ihrer Institution sowie Gäste aus ihrem Umfeld zu dieser Begehung eingeladen, darunter der ehemalige Tennisprofi Dominic Thiem (Rang 3 der Weltrangliste) mit Freundin und Mutter, die sich ihrerseits für den Naturschutz engagiert.


Mario F. Broggi, 23. Juli 2025
