
Ein Alarm wegen Grünerlenausbreitung
In der Hauptausgabe der schweizerischen Tagesschau vom 12. August 2025 wurde die Verbuschung des Alpenraumes durch die Grünerle thematisiert, wie dies bereits einmal am 11.8.2013 im gleichen Sendegefäss der Fall war. Biologen schlagen Alarm wegen einer rasanten Ausbreitung der Grünerle. Sie wird weder von der Land- und Forstwirtschaft noch vom Naturschutz geschätzt und ähnlich wie invasive Neophyten kritisch gesehen, ausser dass sie einheimisch ist. Gibt man auf google „Grünerle als Problem“ ein, so kommt KI-gestützt folgende Antwort:
- Verdrängung von Weideflächen: Gräser und Kräuter werden als Futterpflanzen verdrängt
- Verlust an Biodiversität, die Artenvielfalt nimmt ab
- Erosion, nach allfälligem Entfernen der Grünerlen wächst die Erosionsgefahr
- Umweltbelastung mit Freisetzung von Treibhausgasen und stickstoffbelastete Gewässer, weil Grünerlen mit ihren Knöllchenbakterien Stickstoff anreichern.
Diese Aussagen werden von wissenschaftlicher Seite wie etwa Alpfor (Alpine Research Station Furka) gemäss Urner Zeitung vom 14.5.2019 gestützt: „Dieser Busch schützt nicht vor Lawinen, verbraucht viel Wasser, verdrängt Weide und artenreiche Matten, erschwert eine Wiederbewaldung.“ Der Wasserverlust wird mit 20 bis 25% beziffert im Vergleich zum offenen Grünland, was der Stromproduktion fehle (man staune: Natur versus Energie!). Die Grünerle habe keine Funktionen, weder eine Schutz-, noch eine Nutz- oder Wohlfahrtsfunktion. Jährlich kämen schweizweit 1‘000 ha Grünerlen dazu. Verschwinde der Mensch, komme die Grünerle. Diese Aussagen werden medial in vielen Kanälen verbreitet, so auch in einem Fact Sheet der Akademie der Naturwissenschaften (o.D.) wie auch in Agridea (o.D.), und dies meist von den gleichen Autoren. Im Bundesauftrag haben Barbara Huber und Monika Frehner eine umfangreiche Literaturrecherche zur Grünerle vorgelegt (Huber & Frehner 2012). Das ist eine seriöse Auflistung von Teilaspekten, wobei den einzelnen Aussagen wenig widersprochen werden kann. In der Schlussfolgerung folgt trotz einigen positiven Aspekten ein alarmierendes Ergebnis. Man könnte vereinfacht zusammenfassen: die Grünerle passt in keinen Schuh, wird als „Unkraut“ gesehen und so behandelt. Es mag der Ausdruck einer allgemeinen Frustration angesichts einer laufenden Entwicklung sein, die sich an der Grünerle entlädt.
Ich kann mir nicht erklären, wie sogar Biologen zur Aussage kommen, dass die Grünerle für den Erhalt der Biodiversität schädlich und für den Artenschutz nutzlos sei. Für viele subalpine Vogelarten wie Klappergrasmücke oder Alpenerlenzeisig, aber auch für Birkhühner, sind dies bedeutsame Lebensräume. Die Aussagen über eine übermässige Stickstoff-Freisetzung mit hohem Wasserverbrauch sind in Anbetracht der landwirtschaftlichen Stickstoffanreicherungen auch angesichts ihrer Verfrachtungen durch die Luft gar als zynisch zu sehen. Diese Aussagen reizen mich zum Widerspruch, weil ich meine, es sei dies ein Blick durch eine zu anthropozentrische Brille. Man könnte dies mit etwas Biophilie auch anders sehen.
Gibt es auch Vorteile mit der Grünerle?
Rollen wir die Problematik mit der Ursache für die rasante Zunahme der Grünerle auf. Ihr natürlicher Standort ist meist steil, felsig, feucht, auf instabilen Böden und besonders auf Nordhänge konzentriert. Sie bildet den Krummholzgürtel, der den Bäumen nach oben in feuchteren Lagen folgt, während die Legföhre dies in trockeneren tut. Unterhalb der Waldgrenze kommt sie vor allem in Lawinenrunsen- und trichtern vor, wo andere Baumarten nicht aufwachsen können. Die Stämme der Grünerlen sind sehr flexibel, werden durch Lawinen niedergelegt und richten sich nach der Schneeschmelze wieder auf, während Bäume ab einem gewissen Stammdurchmesser bei Lawineniedergängen brechen. Aus diesen Primär-Standorten hat sich die Grünerle invasiv ausgebreitet. Warum?


Das hat mit dem Menschen zu tun. Die Alpweiden wurden vor hunderten von Jahren durch Waldrodungen ausgedehnt, einigenorts zu stark, was zur vermehrten Lawinenbildung beiträgt und auch zu Erosionen führen kann. Der subalpine Wald und der nach oben folgende Krummholzgürtel haben ihre Schutzfunktionen, wobei festzuhalten bleibt, dass gewisse Lagen wohl mit Vorteil immer bewaldet geblieben wären. Das wäre in der Natur die „Hausaufgabe“ der Pioniergehölze und/oder des subalpinen Schlusswaldes gewesen. Im Zuge des landwirtschaftlichen Strukturwandels zieht sich nun die Alpwirtschaft flächig aus peripheren Gebieten zurück und überlässt sie der natürlichen Wiederbewaldung, wovon die Grünerle als Pioniergehölz profitiert. Das geschieht vor allem unterhalb der alpinen Baumgrenze. Dort herrschen in ehemaligen Alpweiden ähnliche Bedingungen wie in Lawinenrunsen. Die Grünerle verhindert hier nicht die Waldentwicklung, sie beginnt sie erneut und oberhalb der Waldgrenze steht dann die natürliche Vegetation als geeigneter Lebensraum für Wildtiere zur Verfügung. Frühere Waldbauer sahen mit diesem „Vorwald“ – wegen der Stickstoffbindung in den Wurzeln wie bei der Gründüngung durch Leguminosen im Flachland – eine Bodenverbesserung (Rubli 1976, Eidg. Forschungsanstalt WSL 2013). Lassen wir hierzu den Waldbauprofessor Hannes Mayer (1922-2001) zu Wort kommen:
Die frostharte Pionierbaumart ist unentbehrlich für die Konsolidierung von Rutschungen, Erosionsgebieten und sekundären Lawinengebieten, da in ihrem Schutz die Schlußbaumarten hochkommen können. Als Vorwaldbaumart fördert die Grünerle bei der Aufforstung von feuchten Almböden die Drainage und wirkt bodenverbessernd. Unter dem lockeren Schirm verjüngen sich leicht Fichte und Lärche.
Mayer, Hannes 1977: Waldbau auf soziologisch-ökologischer Grundlage. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart/New York
Hat denn der zunehmende Grünerlenbestand tatsächlich keine Vorteile, wenn ihm ja alle Funktionen abgesprochen werden? Hier seien neben der bereits erwähnten Bodenverbessrung zwei wesentliche ökologische Funktionen genannt. Die Grünerle bildet einen wertvollen Erosionsschutz (Huber & Frehner 2016). Dies ist vor allem in den Steillagen von Bedeutung. Und zweitens ist ihr auch grösserflächiger Bestand ein guter Einstand für das Schalenwild. Hier werden in der aktuellen Klimaentwicklung dichte Vegetationsstreifen oberhalb der alpinen Waldgrenze als Schattenspender immer wichtiger. Wir denken vor allem auf den Alpen an Kühe, Rinder, Schafe und Ziegen, weniger an das einheimische Schalenwild. Dieses geht im Vergleich zum Nutzvieh oft vergessen. Das Grünerlengebüsch ist für das Schalenwild, insbesondere für das Rotwild, Ruheort und Schattenspender. Zudem bietet es Nahrung und ist deshalb eine beliebte „Verbisspflanze“. Dort richtet das Schalenwild auch weniger Schaden an.

Natur Natur sein lassen oder Schützen durch Nutzen?
Viele bisherige Betrachtungen zur Ökologie der Grünerle erscheinen in der Gesamtschau wenig gesichert, aber es gibt trotzdem viele Meinungen zu dieser bemerkenswerten Pflanze. Ein Hauptaugenmerk verdient hier die Debatte rund um die Naturschutzziele „Natur Natur sein lassen“ versus „Schützen durch Nutzen“. Beides ist sinnvoll, die Pflege liegt aber vielen von uns näher. Der Naturschutz hat seine Wurzeln im Konservieren. Der Mensch wünscht sich Ordnungsprinzipien, in denen er sich wohlfühlt. Der Prozess der freien Naturentwicklung bedeutet auch Kontrollverlust. Häufig wird gegen die Grünerle mit dem Argument des Biodiversitätsschwundes argumentiert. Hier muss differenziert werden. Die Initialphase mit bis 25 bis 50% Grünerlen-Bedeckung erzeugt mehr Artenvielfalt, sie befindet sich in einem dynamischen Fliessgleichgewicht (Huber & Frehner 2016). Mit diesem Prozess verläuft Evolution ungestört von menschlichen Entwicklungen. „Natur Natur sein lassen“ wird mit ihrer freien Dynamik im Naturschutz für den Erhalt der biologischen Vielfalt erst teilweise erkannt. Metastudien für Europa halten fest, dass Rewilding auf regionaler Ebene eine höhere Biodiversität erreichen kann als alle anderen Management-Optionen, während auf lokaler Ebene selbstverständlich Verluste eintreten können (Arnujo & Alagador 2024, Perara & Navarro 2015). Auf einen konkreten Standort bezogen, werden mit zunehmender Bedeckung durch die Grünerle Teile der Artenvielfalt vermindert, wobei wir in der Gesamtschau die Vielzahl der Flechten, Moose und Pilze meist in den Betrachtungen negieren, die hier bedeutsam sind. Der Naturschutz konzentriert sich zu stark auf gewisser Aspekte der Biodiversität, teils zu Recht, aber nicht überall. Das Rewilding hat einen holistischeren Ansatz, es hat kein Artenschutzziel, lässt alles offen, wie es die Natur will und macht. Damit haben viele Leute, auch Fachleute, ein Problem, weil Rewilding stärker ergebnisoffen ist als der klassische, konservierende Natur-Artenschutz, wo man das Gefühl hat, die „Sache“ im Griff zu haben. Der Mensch will fürsorglich für den Artenschutz eintreten, überblickt aber nie das Ganze.
Warum muss der Mensch bis in den hintersten Winkel alles nutzen wollen? Hier schlagen uns möglicherweise die Traditionen jahrhundertealter Mangelgesellschaften im Berggebiet ein Schnippchen, bei denen jede Möglichkeit genutzt werden musste, um an extremen Standorten zu überleben. Warum können wir heute, in der Zeit, in der selbst in entlegensten Berggebieten kein Versorgungsmangel mehr herrscht, nicht einfach auch in Teilgebieten „Natur Natur sein lassen“, und dies ohne Nutzenabwägungen für unsere Zwecke. Die anthropozentrische Betrachtung ist selbst bei Wissenschaftern häufig eine Dominante. Sie denken in uns nützlichen zeitlichen Einheiten. Es ist richtig, dass ein Grünerlenbestand unterhalb der alpinen Waldgrenze für andere Baumarten ein schwierigeres Aufkommen bedeutet. Die Sanduhr des Waldes läuft aber im Bergwald rund fünfmal langsamer ab als für uns Menschen. Es braucht im Wald kein Subito, wie es selbst der Förster sich wünscht. Unterhalb der Waldgrenze werden die Waldbäume früher oder später wieder ihren Platz einnehmen. Der Wald hat eine andere Zeiteinheit. Geschieht eine Wiederbesiedlung mit alpinen Baumarten ohnehin langsam und ist das Aufkommen von Bäumen im Grünerlengebüsch erschwert, so hat der Bergwald eben die Zeit dafür, der Mensch offensichtlich weniger. Die Erle sichert aber den Boden für künftige Sukzessionen, der sonst durch Erosion verloren ginge! Nur so ist es erklärbar, dass der Baum nach 100 bis 120 Jahren Baumalter von der Forstwirtschaft als hiebsreif gilt. Das wären im menschlichen Vergleich 30jährige Leute. Es fehlen uns alte Bäume, also Alt- und Totholz.
Eine Neuausrichtung der Alpwirtschaft ist sinnvoll
Die Alpwirtschaft ist stark mythologisiert. Sie entzieht sich dadurch beim laufenden landwirtschaftlichen Strukturwandel einer Faktenbeurteilung und auch Kosten-Nutzenüberlegungen fallen weitgehend weg. Ich meine, den laufenden Strukturwandel gilt es zu berücksichtigen, die Alpwirtschaft ist Teil der Agrarwirtschaft. Jetzt geschieht es einfach, so auch das mit der laufenden Extensivierung. Wir könnten teils mit getätigten Infrastrukturaufwendungen in der Alpwirtschaft das Vieh wörtlich „vergolden“. So manche Alperschliessung ist in einer Gesamtschau schwer nachvollziehbar, so erlebt als Mitglied der Eidg. Natur- und Heimatschutzkommission. Eine solche Aussage ist kein Plädoyer gegen die Alpwirtschaft. Es sollen auch traditionelle alpine Kulturlandschaften erhalten werden und dafür markant Steuermittel eingesetzt werden. Aber es ändert sich etwas. Die frühere Handarbeit war noch kostengünstiger oder als Fronarbeit akzeptiert, wo die Grünerle mit Aufwand immer wieder zurückgedrängt wurde, um keine Weidefläche zu verlieren. Solchen Tatsachen ist Rechnung zu tragen. Es wurden früher auch Grünerlen in der Nähe der Alpställe erhalten, damit man davon im Sommer in Notzeiten die Erlen schneiteln und als Notfutter nutzen konnte. Nochmals: in für sie geeigneten Lagen ist die Pflege der traditionellen Kulturlandschaft erstrebenswert und ein breiter Wunsch in der Bevölkerung. Es geht um ein “sowohl als auch“. Eine Schrumpfung der Alpen zu Gunsten eines Rewilding ist kein nationales Unglück. Dies alles berücksichtigt, ergibt sich ein erweiterter Blickwinkel auf die Grünerle, der nicht mehr so negativ ausfallen muss. Das spricht keinesfalls standörtlich gegen eine gewisse Begrenzung ihres Aufwuchses, zum Beispiel mit Einsatz von Ziegen, wo es auf Grundlage einer Managementplanung auch sinnvoll sein soll.
Mit einer Ausweitung des Blickwinkels wird auch die Grünerle neu beurteilt werden. Das wünsche ich mir.
Quellen
Agridea (o.D.): Patura Alpina: Grünerle – Situationsanalyse, https://www.patura-alpina.ch/pflanzen/gruenerle/situationsanalyse.html.
Akademie der Wissenschaften Schweiz (o.D.): Factsheet – Die Verbuschung des Alpenraums durch die Grünerle, 4 S.
Arnujo, M. & Alagador, D. (2024): Expanding European protected areas through rewilding, Current Biology, Vol.34, Issue 17, 9. Sept.2024, p. 3931-3940.
Forschungsanstalt WSL (2013): Überlebenskünstler Alpenerle, waldwissen.net
Huber, B. & Frehner, M. (2012): Bericht Grünerle. Bericht erstellt im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt, Bern, 198 S.
Huber, B. & Frehner, M. (2016): Die Grünerle breitet sich aus. Waldwissen.net, Redaktion Eidg. Forschungsanstalt WSL, 14.3.2016.
Perara, H.M. & Navarro, L.M. (2015)(Ed.): Rewilding European Landscapes, Springer Open.
Rubli, D. (1976): Waldbauliche Untersuchungen in Grünerlenbeständen. Beiheft 56 zu den Zeitschriften des schweizerischen Forstvereins, 80 S.
Mario F. Broggi, 21.8.2025