Der Ausdruck „Lost place“ ist ein Pseudoanglizismus und bedeutet sinngemäss vergessener Ort. Über solches wird in deutschen Fernsehsendern wie WELT und N24 mit unzähligen Beispielen fast täglich berichtet. Es sind häufig Bauwerke aus der jüngeren Zeit, die historisch noch nicht aufgearbeitet wurden.

Fährt man auf der Staatsstrasse SS34 von Cannero nach Cannobio dem Lago Maggiore entlang, so sieht man rund 100 Höhenmeter höher ein sehr grosses Gebäude. Es fällt die lange Fassade auf, in der die Fenster fehlen. Ich fragte bei Gelegenheit meinen Hauverwalter, was das denn für ein Gebäude sei. Er meinte, man habe dort einst Kinder beherbergt. Er sei noch als Elektriker dort tätig gewesen. Heute sei es eine Ruine. Damit wären wir beim Lost Place. Ich hatte solche Beispiele im Fürstentum Liechtenstein eruiert und darüber einen Beitrag im Jahrbuch des Historischen Vereins veröffentlicht (mariobroggi.li/lost-places). Dadurch sensibilisiert, habe ich mich nach 20 Jahren Aufenthalt in Cannero nun auch dieses Falles angenommen.

Quelle: geo.admin.ch

Ich beschloss vorerst eine Lokalbesichtigung. Auf der schweizerischen Landeskarte sind drei Zugänge zum Standort vermerkt. Der Geeignetste schien mir über eine Stichstrasse von Cannobio aus zu sein, wo man bis knapp 500 Meter vor die Gebäude auf gleicher Höhe gelangt. Von dort führt nach der Karte ein Wanderweg zu den Gebäuden. Dieser Zugang bestand aber nicht mehr, alles war mit dornigen Robinien und Brombeeren zugewachsen und bildete ein massives Hindernis. Ich versuchte es mit einem zweiten Zugang, einem eingetragenen Pfad von der Seeseite her. Auch dieser erwies sich als unpassierbar. Hier sind heute unüberwindbare Steinschlagnetze zum Schutz der Staatsstrasse eingebaut. Ich erhielt den Hinweis, dass es ebenfalls von der Seeseite her eine Auffahrt gäbe. Nach der Landeskarte war das Objekt über eine Strasse mit zehn Wendeplatten zu erreichen. Das Eingangstor war geschlossen und damit auch hier kein Zutritt möglich. Es verblieb mir, als ein Foto ab der Staatsstrasse SS 34 als aktuellen Beleg zu schiessen. Die weitere Beschäftigung mit diesem Lost Place musste über das Literaturstudium erfolgen. Über ein so grosses Gebäude müsste es doch einiges Geschriebenes geben.

Einst mit­tel­al­ter­li­che Abtei

Die Spurensuche führte ins Mittelalter zurück. Es gibt Hinweise auf eine frühere Abtei an Ort. Die Benediktiner sollen 1247 diesen Ort der Ruhe mit „Ora et Labora“ für ihre klösterliche Gemeinschaft ausgewählt haben. Es ist vorerst von drei bis vier Mönchen die Rede. Der klösterliche Standort liegt hier abseits. Entlang des Lago Maggiore gab es auf dieser Seeseite noch keine Strassenverbindung. Sein Westufer wurde mit Booten von der lombardischen Seite her erreicht. In Cannobio angekommen, musste man bergwärts in Richtung Süden einen weiteren Kilometer bis zum Kloster gehen. Die Mönche sollen ihren Besitz am Ende des 13. Jahrhunderts auf 23 Hektaren ausgeweitet haben. Wie häufig üblich, finden sich urkundlich Hinweise auf Streitigkeiten. Es geht um Rechtshändel mit Cannobio und es ist auch von Wirrnissen mit anderen kirchlichen Strukturen die Rede. Auch die Pest soll in der Gegend mehrfach gewütet haben.

Zwischen 1600 und 1700 wurde die Kirche restauriert und die Tradition einer Prozession für das Fest des Kirchenpatrons soll noch ausgeführt worden sein. Später ist dann von einer Ruine die Rede. In einer Urkunde des Jahres 1798 gibt es folgende Beschreibung: „Das Kloster, das heute teilweise verbrannt ist, dient den Gutsverwaltern als Wohnhaus. Es gibt eine Weinpresse, einen großen Garten und weitläufige Weinberge“. Im 19. Jh. soll die Kirche als Stall benutzt worden sein. In einem Katasterbericht vom 31. Dezember 1860 ist von einem Haus, zwei landwirtschaftlichen Gebäuden, einer Wiese mit Maulbeerbäumen, zwei Gemüsegärten, Gehölze, Kastanien, vier Weingärten und einer Weide auf insgesamt 22 ha 37 a und 14 m2 die Rede. Im Jahre 1867 wurde die Abtei vom Staat expropriiert. Es wäre interessant zu wissen, ob es von der klösterlichen Zeit noch Relikte gibt. Ist beispielsweise der Turm nahe der heutigen Gebäude aus jener Zeit?

Die Villa Badia mit Pension

1869 sei das Gebäude verfallen und es wurde nach einigen Besitzerwechsel zu einer Pension um- oder neu gebaut. Sein vielleicht berühmtester Gast war der Philosoph und Schriftsteller Friedrich Nietzsche (1844-1900). Er weilte vom 4. bis 27.April 1882 in La Badia. Ich fand diese Aussage in einem Buch „Approdi alla Badia“. Ich wollte darüber Näheres erfahren und fragte auf Internet nach seinem Besuch in Cannobio. KI antwortete mir, dass Nietzsche nicht in Cannobio gewesen sei. Die Hinweise auf seinen Aufenthalt sind aber eindeutig. Man nimmt an, dass er wegen einer Kaltwasser-Applikation hier war. In der Nähe waren die bekannten Carlina-Brunnen, denen Heilkraft zugeordnet wurde. Am 20. April 1887 schrieb Nietzsche (damals 44jährig) an seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche: „Hier bin ich an einem herrlichen Ort und jeder Morgen überrascht mich durch seine Farbenpracht. Auch das vornehme-klösterliche seiner Lage thut wohl“. Dann allerdings folgt im Brief, er sei missgestimmt, weil seine Mitpensionäre eine „unvergleichliche Langweile“ ausstrahlten. Im Jahre 2013 widmete ihm die Stadt Cannobio zwei Gedenksteine an einem Fussweg zum Carlina-Brunnen.

Ehemaliger Pensionsbau, Ansicht aus den 1920er-Jahren

In dieser Zeit des Nietzsche-Besuches wurde die Gegend vom Tourismus entdeckt, insbesondere von den Engländern, Russen, aber auch Schweizern, und dies trotz der Abgelegenheit. Ein geeigneter Zugang zum Kloster wurde im Oktober 1857 gebaut und erst 1859 wurde die spätere Staatsstrasse SS34 entlang des rechten Seeufers durchgehend nach Verbania errichtet. Die Pension wurde bis Ende Oktober 1914 betrieben. Dann wechselte die Liegenschaft häufiger die Eigentümer.

Das Präventorium Umberto di Savoia

Diese Geschichte beginnt 1922, als das antituberkuläre Provinzkonsortium in Cannobio das Gebiet der alten Abtei kaufte, dies mit der Absicht, hier ein Sanatorium mit über 160 Betten zu errichten. Dieses grosse Bauwerk wurde 1927 fertig gestellt, wurde aber umgehend als unzulänglich erklärt. Nach der Weigerung der nationalen Sozialversicherungskasse, die Last und Verwaltung zu übernehmen, erwarb die Provinz Mailand das Gebäude und änderte die Zielsetzung. Es sollte zu einem Ort werden, an dem Kinder zwischen sechs Monaten und neun Jahren eine besondere Unterstützung erfahren. Es ist von Exponiertheit als in durch Tuberkulose infizierter Umgebung die Rede. Um die hohen Verwaltungskosten einzudämmen, sollte der Komplex auf mindestens 300 Betten erweitert werden, was der Widerstand der örtlichen Bevölkerung verunmöglichte. Dann war von einem sogenannten Präventorium die Rede. Ein Präventorium war ein Erholungsheim für Kinder, was es in dieser Form heute als Institution nicht mehr gibt.

Das Präventorium sollte keinen Krankenhauscharakter erhalten, sondern eine Einrichtung für Minderjährige mit familiärer Behandlung werden. Neben Unterricht waren motorische Freizeitaktivitäten angestrebt, um ein fröhliches Umfeld zu ermöglichen. Das Kinderpräventionszentrum „Umberto di Savoia“, benannt nach dem ehemaligen König von Italien, wurde am 8. August 1929 vom Rektorat der Provinz Mailand eingeweiht. Ab den 1960er Jahren wurden nach dem Aufkommen der Antibiotika vermehrt sozial benachteiligte Kinder hier willkommen geheissen. 1974 wurde ein psychopädagogisches-medizinisches Institut an Ort eingerichtet. Aber im August 1985 wurde die Anlage geschlossen und die Gebäude wurden aufgegeben. Das Bauwerk ist dem Vandalismus überlassen und zerfällt.

Ansichtskarte aus dem Jahr 1934

Zu Beginn des Jahres 2012 wurde die Liegenschaft von jetzt 18 Hektaren für 3 Millionen Euro von einer Gesellschaft mit Sitz in Verona gekauft. Sie soll einer schweizerischen Stiftung gehören. Es sei das Ziel, hier auf der Basis der bestehenden Gebäude für 50 bis 60 Mio. Euro eine Residenz mit 70 Wohneinheiten zu errichten. Ausser einigen Abstützungen in den Gebäuden wurde aber nichts unternommen. Es ist nach Sichtung von Videos mit Einsicht in alle Zimmer der Gebäude schwer vorstellbar, dass eine Revitalisierung der Anlage noch möglich ist. Zudem ist der sehr grosse, verschachtelte Bau keine architektonische Meisterleistung.

Heute, 40 Jahre nach der Schliessung der Institution, scheint die Anlage vergessen und verlassen. Ihre Geschichte dauerte fast 800 Jahre als einstiges Kloster, dann Pension und später zur Prävention von Tuberkuloseanfälligen und als Kinderheim. Über den heutigen baulichen Zustand geben drei Videos vom 13.7.2018, 5.11.2021 und ein fast stündiges vom 10.12.2014 von paranormal.investigator.varese, mit allen Facetten des Vandalismus in den Gebäuden, Auskunft. Man findet die Videos im Internet unter „Ex-preventorio Umberto di Savoia Cannobio“. Ein Buch von Francesca Zammaretti über die Geschichte dieses Standortes ist 2005 erschienen. Ob sich hier nochmals Neues ergeben kann? In jedem Fall wäre das Entfernen der Ruinen anzustreben.

Heutiger Zustand.

Quelle

Zammaretti, F. (2005): Approdi alla Badia. La Storia e le voci del preventorio di Cannobio.  Tarara, Varbania, 269 S.

Mario F. Broggi, 14.10.2025